Rezensionen

„Schau mich an“ – eine Warnung

Wie dieser Website unschwer zu entnehmen ist, bin ich ein Fan von Elif Shafak. Nicht nur habe ihre zuvor erschienenen Romane Der Geruch des Paradieses und Unerhörte Stimmen mit großer Begeisterung gelesen, sondern sie auch bei einer Lesung im rbb persönlich als sehr sympathische Autorin kennen gelernt. Meine Erwartungen an den „neuen“ Roman Schau mich an, der im türkischen Original bereits 2000 erschienen ist, aber erst jetzt – nach dem großen Erfolg der genannten Bücher – von Kein & Aber als deutsche Neuerscheinung angekündigt wurde, waren daher sehr hoch.

Schon bald musste ich aber feststellen, dass es sich bei diesem Buch um ein ganz anderes Werk handelt als bei den vorher erschienenen: Allzusehr ist die Autorin mit der Konstruktion des Romans beschäftigt, endlos breitet sie die über Jahrhunderte hergeleitete Historie aus und arbeitet mit vielen Einschüben, dem „Lexikon der Blicke“, das der kleinwüchsige Mann, eine der beiden Hauptpersonen verfasst, während sich seine Gefährtin, eine sehr dicke Frau, darüber beklagt, dass er zuviel Zeit mit dieser Materialsammlung verbringt und sie vernachlässigt.

Es wurde verschiedentlich angemerkt, dass diese Figuren gut getroffen und bemerkenswert seien, weil sie nicht als bemitleidenswerte Geschöpfe, sondern als angriffslustige Gestalten in Erscheinung treten. Dagegen ist nichts einzuwenden, aber der Roman ist so überfrachtet mit historischen Abschweifungen, unterschiedlichen Schauplätzen und Zeiten sowie den bereits angesprochenen lexikalischen Einträgen, dass der Fokus für eine die Handlung vorantreibende Entwicklung der Personen verloren gegangen ist.

Thea Dorn war ebenso wie Ulrich Matthes begeistert von der Fabulierlust der Autorin und gemeinsam frönte das Literarische Quartett dem Orientalismus, der doch schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts aus der Mode gekommen ist. Im ZDF aber wurde der Eindruck vermittelt, es handle sich hierbei um ein außergewöhnliches Werk aus einem uns nicht so vertrauten Kulturkreis, ganz so, als ob es sich bei dem Buch um neuzeitliche Geschichten aus Tausendundeiner Nacht handle.

Sehr viel klischeehafter kann man nicht versuchen, ein Buch unter die Leute zu bringen, dessen Qualität eher in der Sammlung von Anektoden und Begriffsdefinitionen begründet ist als in der Konstruktion einer packenden und interessanten Handlung. Und der Verlag preist das Buch als „eine humorvolle, tragische und Jahrhunderte überspannende Erkundung dessen, was es heißt, andere anzublicken und angeblickt zu werden“, an.

Humorvoll ist der Roman – und einfallsreich, etwa wenn Shafak schreibt: „Mir gefiel es nicht da draußen. Da draußen war das Land, wo einem Etikette verpasst wurden. Die Kinder in der Krippe wetteiferten geradezu darum, mich daran zu erinnern, wie dick ich war. So wie ein Raucher abends Tabakgeruch in den Haaren hat, roch ich beim Nachhausekommen die Buchstaben d-i-c-k in meinen Haaren. Darum wusch ich mir immer gleich als Erstes den Kopf und sah zu, wie die Buchstaben kreisend im Abfluss verschwanden.“

Und obwohl die Protagonistin sich die Haare färbt und die Palette der Farben detailreich – unter Verwendung so ausgefallener Bezeichnungen wie „Abschied vom Zug bei Sonnenuntergang“ oder „Herbstliches Kastanienrösten“ – geschildert wird, bleibt sie seltsam farblos. Das kann frau natürlich als Stilmittel sehen, wie es Andrea Petkovic im schon erwähnten Literarischen Quartett tat – Auflösung garantiert. Doch für mich geht diese Versuchsanordnung nicht auf, der Roman bleibt Stückwerk und die große Pointe am Ende entschädigt nicht für das Manko an Detailschilderung davor.

In ihren letzten beiden Romanen gelang es Shafak, uns ihre profunde Kenntnis der türkischen Gesellschaft – gefiltert durch die Außenwahrnehmung der Diplomatentochter und der im Ausland lebenden erfolgreichen Frau – so nahezubringen, dass ich das Gefühl hatte, einen unmittelbaren Einblick in die Welt des türkischen oberen Mittelstands (Der Geruch des Paradieses) beziehungsweise die von Menschen am Rande der Gesellschaft (Unerhörte Stimmen) zu erhalten. Dieses Gefühl hatte ich bei diesem Buch nur in seltenen Momenten, wiewohl diese wieder sehr treffend geschrieben sind – etwa die auch von den TeilnehmerInnen des Literarischen Quartetts angeführte Szene im Sammeltaxi.

Elif Shafak – Schau mich an (Mahrem). Aus dem Türkischen von Gerhard Meier, 24 Euro, ISBN: 978-3-0369-5829-3.