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Achtung, freilaufende Berliner!

Alles, was Sie wissen müssen, wenn Sie sich in die Hauptstadt wagen

1. Auflage: Juli 2010, Heyne Verlag, 272 Seiten, ISBN 3453601580.

Der Autor

Walter Lendl lebt (und arbeitet meist) in Berlin, er hat seit 2001 in Mitte gewohnt und ist 2009 nach Charlottenburg umgezogen, weil es dort wenigstens einen Schuster und ein österreichisches Kaffeehaus gibt. Er versteht, dass Erben und Menschen, die auf dem Weg zu sich selbst sind, Berlin sehr attraktiv finden, kann sich aber gut vorstellen, in näherer Zukunft in eine Stadt zu ziehen, die ihm und seiner Familie auch noch andere Aufregungen bieten kann als immer nur Projektplanung, JÜL-Klassen und Freibäder mit Polizeischutz.

Tag für Tag
Berlin-Blog

Interview mit Walter Lendl
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Interview in der
„Berliner Illustrirten Zeitung“ (Berliner Morgenpost)
von Jan Draeger
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Vorwort

Berlin ist angesagt
Berlin ist das Letzte.
Berlin ist mobil.
Berlin ist Avantgarde.
Berlin wird scheitern.

Berlin(er) muss man lieben

Der Berliner – eine Ich-AG

Schon immer wuchsen hier seltsame Pflänzchen. Aber plötzlich ist der Mitte-Berliner ein Stil-Vorbild für die ganze Republik. Sein vorherrschender Gemütszustand ist Aufgeregtheit, doch er produziert nur rasanten Stillstand. Das aber mit dem Impetus des Besserwissers.

Wer zuerst schießt …

Angriff ist die beste Verteidigung. Wer den anderen bloßstellt, kann auch selbst die Hosen runterlassen. Den Berliner kümmert es nicht, ob er eine gute Figur macht. Hauptsache, er hat das letzte Wort.

Der Berliner – eine Verallgemeinerung

Die Stadt ist groß und unübersichtlich, doch ihre Bewohner gehen praktisch nicht weiter als über den Dorfplatz – der Kiez ist ihr Ein und Alles. Ost und West, Arm und Reich sind streng getrennt. In der Mitte hat sich ein schwarzes Loch geöffnet, in dem man Metropole spielt.

Wie der Berliner wurde, was er ist – eine Typologie

Am Rande der Zivilisation

Auch wenn heute wieder viel von der Mitte die Rede ist: Berlin stand noch nie im Zentrum der Kulturgeschichte. Doch es hat eine lange Geschichte der Toleranz. Hier wurden schon immer alle willkommen geheißen, die man anderswo vertrieben hatte. Und sie haben den Charakter der Bewohner geprägt.

Der Frontstadt-Bewohner und Westberliner Filz

Ältere Berliner erzählen heute noch gerne davon, dass sie die Freiheit verteidigt haben, während alle anderen flohen. Bis zur Jahrtausendwende regierte der Filz aus Provinzpolitikern und lokalen Bauunternehmern die Stadt. Die Bundesrepublik finanzierte die Mauerstadt aus schlechtem Gewissen.

Für immer Wedding

Eberhard Diepgen und Harald Juhnke sind die Helden des Westberliner Kleinbürgertums, das in der Mauerstadt die Machtpositionen besetzte: Beide stammen aus dem Wedding und sind nie über Berlin hinausgekommen. Marlene Dietrich, eine wirkliche Verteidigerin der Demokratie, wird hingegen wenig geschätzt.

Der Westberliner Bürgerschreck

Die 68er und ihre Erben prägen die Stadt mehr, als manchen ihrer Bewohnern lieb ist. Auch wenn sich viele vom Revolutionär zum Renegaten gewandelt haben, ist ihre Hinterlassenschaft nicht mehr wegzudenken und macht einen bedeutenden Teil des Flairs der Hauptstadt aus.

Die müden alten Weltverbesserer

Aus der Protestbewegung wurde die Kneipenkultur. Heute geht es einfach um das bessere Leben – ideologische Begründungen dienen nur der Abgrenzung oder der Pflege des eigenen Mythos.

Die Ostberliner

Sie waren plötzlich da. Sie nahmen sich ihren Platz in der Stadt, in der Politik und in der Öffentlichkeit. Sie haben mitgemacht oder sich widersetzt, soweit es ihnen möglich war. Sie haben sich angepasst oder gewandelt. Sie sind die Alten geblieben oder haben eine ganz neue Identität gefunden. Sie wählen mehrheitlich „Die Linke“ und sehnen sich nach Anerkennung.

Die Ausländer

Die Türken wohnen beinahe ausnahmslos in den alten Arbeiterbezirken des früheren Westberlin, in Kreuzberg, Neukölln, Moabit und im Wedding. Die reicheren Russen siedeln – in alter Tradition – vor allem in Charlottenburg, die ärmeren Spätaussiedler zu großen Teilen in Marzahn-Hellersdorf. In Mitte, wo all die jungen Einwanderer aus aller Welt hinwollen, ist die Mischung am vielfältigsten.

Die Neu-Berliner

Das Bild des jungen, bei Künstlern und Touristen beliebten Berlin, das im Moment so angesagt ist und Menschen aus aller Welt anzieht, hat so gut wie gar nichts mehr zu tun mit dem kaputten, eingeschlossenen Westberlin der Vor-Wende-Zeit oder mit Ostberlin, der Hauptstadt der DDR-Privilegierten.

Die Mitte und der Mehrwert

In Mitte ist eine Szene zweiter Ordnung entstanden – ein „Themenpark Metropole“ für die Touristen. Die Schwulen- und Technoszene dominiert das Nachtleben, und in Friedrichshain-Kreuzberg leben die Erben von 68 und Love Parade.

Die selbsternannte Elite

In Potsdam hat sich am Heiligen See und im Villenviertel Babelsberg eine Handvoll Prominenter darangemacht, die Vergangenheit zu restaurieren und die Zukunft in die Hand zu nehmen. Die Zukunft Deutschlands – nicht nur die ihrer unmittelbaren Umgebung. Doch die liegt ihnen besonders am Herzen.

Was den Berliner ausmacht – Anarchie und Alltag

Stadtmarketing und Umgangsformen

Sei einzigartig, sei vielfältig, sei Berlin. Der Gewinner-Slogan sagt alles über die Stadt – oder nichts. Und das internationale Motto „Be Berlin“ ist so geil wie unverbindlich. Werbung eben.

Die Baustelle

Seit der Wende ist Berlin eine einzige Baustelle. Besonders die historische Stadtmitte und die Bezirke Prenzlauer Berg und Friedrichshain sind permanent eingerüstet. Kaum wird ein Museum wiedereröffnet, steht die Instandsetzung des nächsten an. Erstrahlt das Nachbarhaus zur Linken im zuckerbäckersüßesten Altrosa, fangen sie rechts an, das Gerüst aufzubauen.

Tourismus und Wahrheit

Die Museumsinsel lockt den Kunstinteressierten, die Filmfans besuchen die Berlinale, zu Pokalfinale und Fußball-WM reisen Hunderttausende Fans an. Das Brandenburger Tor ist während der Hälfte des Jahres Schauplatz von Großereignissen, und die Clubs ziehen die Jugend der Welt magnetisch an.

Kiezdeutsch und Metrolekt

Der Berliner redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Der gebildete Ossi berlinert, um sich vom Wessi abzusetzen. Bei dem ist das Berlinische als Unterschichtidiom verpönt. Die jungen Türken haben ihre eigene Umgangssprache.

Was den Berliner ernährt – Kohle und Kreativität

Die Profiteure der Krise

Wer in der Boomzeit nach der Wende baufällige Häuser erworben, saniert und vor der Krise wieder abgestoßen hat, kann sich über satte Gewinne freuen. Und an einer Folge des Platzens der Internet-Blase, den vielen Kindern, lässt sich gut verdienen.

Kreative Stadt Berlin? – Konzept und Irrtum

Das Konzept ist klar: Die Hauptstadt versucht, aus dem Mangel Kapital zu schlagen. Kreative aus ganz Europa werden in die Stadt gelockt – mit Förderungen, billigem Atelier- und Wohnraum und einem überbordenden Kulturangebot. Der Irrtum: Ideen allein bringen kein Geld. Was fehlt, sind die Infrastruktur und die Käufer für die Kreativwirtschaft.

Was den Berliner antreibt – Sucht- und Genussmittel

Drogenparadies Berlin

Drogen bekommt man in Berlin ziemlich leicht und (fast) überall. Sie gehören fest zur jeweiligen Szene – die Anwohner freut’s weniger.

Verpflegung – Hauptsache schnell und günstig

Bier, Buletten, Currywurst und Döner. Das sind die Dinge, die das Herz des Berliners erfreuen. Ein Wein, der sein Bukett entfaltet? Ein Menü, das mehr als drei Gänge hat? Uninteressant. Kulturlos, sagen Sie? Menschenskinder, wir sind in Berlin.

Hosen runter und drauf

Wer ein Intimleben möchte, ist in Berlin am falschen Platz. Hier wird alles ausgebreitet, ob es einen interessiert oder nicht. Man redet nicht lange um den heißen Brei herum, sondern kommt gleich zur Sache. Sperrbezirke gibt es nicht, Sex ist überall käuflich und billig zu haben.

Was den Berliner umgibt – Kultur

Stillstand trotz Hyperventilation

Es ist wahnsinnig viel los in Berlin, eine Premiere jagt die nächste. Kein Wochenende ohne Galerien-Spaziergang, von Vernissage zu Finissage und ab in den nahe gelegenen Club. Es vergeht kein Abend ohne Lesungen, ein Dutzend Konzerte, Comedy-Acts, drei Ballettaufführungen und Tanz. Und trotzdem hat man den Eindruck, dass alle auf der Stelle treten.

Kulturhauptstadt oder Provinzposse?

Die deutsche Hauptstadt hat vier Opernhäuser, unzählige Theater und freie Bühnen, ein Filmfestival, mehrere Avantgarde-Reihen und ungezählte Orte, an denen Musik zu hören ist. Aber ist sie deswegen auch eine Kulturhauptstadt? Sieht man sich die Menschen an, welche die großen Budgets verwalten, denkt man eher an eine Provinzposse.

Music is a „Cabaret“

Rammstein und Max Raabe sind Berlins erfolgreichste Musikexporte. Was sie verbindet: die Tradition des Cabarets.

Szenerummel vs. Nobel-Viertel

Die Event-Kultur boomt – auch im Literaturbereich. Lesungen werden zu Multimedia-Ereignissen hochgetunt, „Wordrap“ und Lesebühnen, Festivals und Auftritte gemeinsam mit Schauspielern sollen die Autoren zu Popstars machen. Die ausgezeichneten Werke aber entstehen nicht in der Öffentlichkeit, sondern quasi im Vorgarten.

… und in der Mitte ein Schloss

Die Chance für einen Neuanfang in der Stadtplanung wurde vergeben. Moderne Architektur findet sich in Berlin höchst selten. Der Schloss-Nachbau soll Identifikation stiften und ist doch nur der Gipfel einer triumphierenden Planung. Der Versuch, eine Stadtstruktur wiederherzustellen, die es so nie gegeben hat, beseitigt alle Spuren der DDR-Geschichte.

Was den Berliner bewegt – Mobiles Leben

Fahrtenverhinderer und Selbstmordkandidaten

Kein Fortkommen: Egal, womit man unterwegs ist – die Fortbewegung in der Stadt ist mühsam. Die Entfernungen sind weit, die öffentlichen Verkehrsmittel unzuverlässig, der Autoverkehr nervenaufreibend und die Fahrradfahrer gemeingefährlich oder lebensmüde.

Kindersitze und Kampfradler

Tja, die Eltern. Womit die so alles unterwegs sind. Angefangen vom Cabrio bis zur letzten Rostschüssel. Wenn sie dann noch der der Subspezies Fahrradfahrer angehören, wird’s ungemütlich.

Taxi zum Schein

Der Vollständigkeit halber sei noch auf das Vorhandensein von Transportunternehmen für die Personenbeförderung verwiesen. Doch Vorsicht: Wer sich einfach auf die Straße stellt, um ein Taxi anzuhalten, hat zu viele Hollywood-Filme gesehen, die in New York spielen.

Was dem Berliner gefällt – Freizeit

Umsonst und draußen

Freibier und Kleingartenverein umschreiben ziemlich anschaulich das Freizeitverhalten des Berliners: Kultur lässt ihn kalt, Messen ziehen ihn an. Im Sommer ist er am, im oder – im Idealfall – auf dem Wasser, bevorzugterweise nackt. Im Winter bleibt er lieber zu Hause. Und am liebsten hält er sich überall dort auf, wo alle anderen auch sind.

Käffchen und Zigarette

Dann beginnt es zu regnen, meist im September, manchmal schon Mitte August, und die Ferien gehen zu Ende. Der Sommer ist vorbei, und der Himmel wird grau. Der Berliner bereitet sich auf die dunkle Jahreszeit vor.

Nachwort

Be Berlin
Wie werde ich Berliner? – Ein Crashkurs in zehn Lektionen

Die Schönheit Berlins
Zum Schluss soll ein Loblied die Hauptstadt preisen, sie hat auch ihre wunderbaren Seiten. Und ehrlich gesagt, sind auch die Bewohner Berlins nicht halb so anstrengend wie die Nachbarn in jeder beliebigen Provinzstadt Deutschlands. Denn ins Positive gewendet bedeutet ihre Teilnahmslosigkeit: Berlin lässt einen so sein, wie man ist – oder sein möchte.

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