Warum Berliner nerven

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Aug Sep Okt 2010

Walter Lendl
Achtung, freilaufende Berliner!
Alles, was Sie wissen müssen, wenn Sie sich in die Hauptstadt wagen
Originalausgabe
224 Seiten
€ 7,95 [D] / € 8,20 [A] / CHF 14,90
ISBN 978-3-453-60158-1

Walter Lendl, geboren 1960 in der Steiermark, studierte in Graz und arbeitete als Grafik-Designer in Frankfurt und Wien. 2001 zog er aus der österreichischen in die deutsche Hauptstadt. Seit 2003 ist er als Creative Director der Agentur up designers berlin-wien für Kulturinstitutionen, Festivals und Verlage tätig. 2007 erschien sein erstes Buch „Darum nerven Österreicher“ (Eichborn).

Berlin ist hip. Berlin ist chic. In Berlin tanzt der Bär. Aber jetzt mal janz ehrlich: Ist der tägliche Wahnsinn der selbstverliebten Bundeshauptstadt nicht unerträglich? Walter Lendl hält den Berlinern einen Spiegel vor, schaut ihnen auf ihre berüchtigte Schnauze und spießt ihre Marotten, Leidenschaften und Eitelkeiten auf. Mit vielen schönen Beispielen belegt er, dass der Berliner großspurig, vorlaut und schlecht angezogen ist, Umgangsformen nicht kennt, für Manieren keine Zeit, aber immer das letzte Wort hat. Wobei es den Berliner schlechthin gar nicht gibt. Es gibt den Ost-, den West- und den Neuberliner, Türken, Polen, Russen – und eine klare Zugehörigkeit zu dem „Kiez“, in dem man wohnt und den man nach Möglichkeit auch zum Abendessen nicht verlässt. So bleiben die Szenen unter sich: Müslis, Anarchos und Türken in Kreuzberg, Alt-68er in Charlottenburg, Ökoschwaben am Prenzlberg, die „kreative Elite“ in Mitte, Autowäscher und Hundehalter in Tempelhof und Steglitz. Mit spitzer Feder schildert Lendl die schrägen Seiten des Berliner Alltags und der Berliner Seele – und gibt allen, die es in die Metropole verschlägt, wertvolle Tipps fürs Überleben.

„Der Berliner ist frech, rücksichtslos
und auf sich selbst fixiert.“

Wie erklären Sie sich den grundlegenden Mangel an Manieren, Eleganz und Höflichkeit? Und wie hat sich der Mauerfall auf diese Grundkonstante des Berliner Charakters ausgewirkt – sind die Ost-Berliner von ihrem Wesen her genauso rustikal und raunzig?
Man spricht von den drei Ps – preußisch, protestantisch, proletarisch –, die für die historische Prägung des Berliner Charakters verantwortlich sind. Preußisch steht für das Militär. Die Stadt ist jung, sie war lange Zeit ein großes Zeltlager, bevor die Mietskasernen gebaut wurden, um die Soldaten schnell bei der Hand zu haben, wenn es zum Einsatz ging und sie bei Laune zu halten, weil sie so bei ihren Familien wohnen konnten. Der Protestantismus ist nicht weit verbreitet, aber doch untergründig vorhanden – als Mangel an Oberfläche, Stil und Umgangsformen. Was uns unmittelbar zum Proletarischen führt: Manieren und Eleganz wurden von je her eher verachtet – als Ausdruckformen der reichen Adeligen und Bürger. Dem Arbeiter fehlten Zeit und Mittel, sich ordentlich zu kleiden und zu benehmen. Später haben 68er, Alternative, Schwule, Punks und Künstler diese mangelnden Prägungen als günstige Voraussetzungen für das eigene Anderssein gesehen.
In Ost-Berlin wurde das Proletarische kultiviert, das Berlinerische gepflegt und das Meckern der enttäuschten Ossis, die von der kapitalistischen Realität überrascht wurden, übertrifft das Raunzen der West-Berliner um Längen.

Wodurch zeichnet sich die berühmt-berüchtigte Berliner Schnauze aus – und was ist an ihr so unangenehm?
Der Name sagt alles. Schnauze, Fremder, du bist in Berlin! Man könnte sagen, es handelt sich um die Zuspitzung des forschen Auftretens des Deutschen, das für den Österreicher an und für sich schon ungewohnt ist, zum vorbehaltlosen Angriff auf seine Lebensberechtigung. Für den Bayern mag es sich unfreundlich anhören, wenn er morgens angeblafft wird, weil er schüchtern nach einer „Semmel“ verlangt. Der Ösi verlässt angesichts des Verdikts „Hamwa nich, hier jibt’s nur Schrippen!“ fluchtartig die Bäckerei.

In Berlin, sagen Sie, wird gemeckert, in Wien gegrantelt. Was ist der Unterschied – und was ist erträglicher?
Je nach Gemütszustand ist das eine schlimmer als das andere. Ich würde sagen: Kurzfristig nervt das Gemeckere mehr, auf lange Sicht das Gegrantel. Wenn einen jemand anmeckert und man ist eigentlich gut gelaunt, hat man’s schnell wieder vergessen, das dauernde Granteln aber raubt einem die Lebensfreude. Die kann man allerdings auch verlieren, wenn man ständig angemeckert wird. Man muss also zurückschnauzen

A propos Wien: Sie sind gebürtiger Österreicher, zwar nicht aus Wien, sondern aus der Steiermark, leben aber seit fast zehn Jahren in Berlin. Haben Sie bewusst Feldforschung betrieben – oder ist ihr Buch die Zusammenstellung persönlicher Erfahrungen eines genervten Zugereisten?

Beides. Ausgangspunkt des Buches waren meine persönliche Erfahrungen in den letzten neun Jahren, in denen ich die meiste Zeit in Mitte gewohnt habe, wo es meiner Meinung nach am schlimmsten ist – auch wenn es sich bei den dort Lebenden um eine relativ junge Subspezies des Berliners handelt.

Gibt es ein Berliner Lebensgefühl – und wenn ja, wie würden Sie es beschreiben?
Locker, luftig, vorne dabei, immer auf dem Sprung und mit einem Spruch auf den Lippen, mit dem man sich über sein Gegenüber erheben kann – im Sommer. Im Winter drückt der Monate lang graue Himmel aufs Gemüt und treibt den Berliner ins Haus oder in den Urlaub.

Wie halten Sie von der Berliner Küche? Wovon ernährt sich der Berliner – und was sagt das über ihn aus?
Es gibt keine Berliner Küche – außer man hält Currywurst und Buletten für kulinarische Errungenschaften. Aber nicht einmal die wurden hier erfunden – ebenso wenig wie der Döner, auch wenn Unmengen davon hier verzehrt werden. Diese Hervorbringungen der Hauptstädter sind ein weiteres Beispiel für ihren Mangel an Geschmack und Bildung. Sie zeugen von der Unachtsamkeit, mit der man der Welt und ihren Genüssen gegenübertritt und von der Beschränktheit des Horizonts in jeglicher Richtung.

Wie provinziell ist der Berliner Großstädter?
Er kommt aus seinem „Kiez“ kaum hinaus, wo er alles findet, was für ihn lebensnotwendig ist, nämlich Supermarkt, Kneipe und Frisör. Seine alten Freunde im „Westen“ sieht er öfters als Bekannte, die in einem anderen Bezirk wohnen.

Welche der von Ihnen geschilderten „Miljöhs“ haben in den letzten zehn Jahren das Stadtbild und das Lebensgefühl besonders geprägt?
Auf jeden Fall die „Teilzeit-Berliner“ und die „kreative Klasse“, deren Ansiedlung vom Senat aufs Heftigste begrüßt wird, auch wenn er wenig dafür tut, eine Geschäftsgrundlage für diese Menschen zu schaffen. Die Beamten, Politiker und Journalisten haben ein eigenes, neues „Miljöh“ geschaffen – einen in sich geschlossenen Zirkel, in den nur wenige alteingesessene Berliner Zugang gefunden haben. Die Künstler, Architekten, Designer und Studenten aus aller Welt siedeln ebenfalls in einer abgeschlossenen Welt, die keinerlei Verbindung zum „alten“ Berlin hat. Es handelt sich um eine Enklave der mittelständischen Erbengeneration aus ganz Europa mit eigenen Codes, vorwiegend englischer Umgangssprache und eigenwilliger Existenzsicherung, die sich aus elterlicher und staatlicher Subvention, Minijobs, neuartigen Geschäftsmodellen und zufälligen Einkünften speist. Wobei ich weniger von „Milijöhs“ sprechen würde als von verschiedenen Szenen. Das Wort „Milijöh“ beschwört immer die Zeichnungen von Heinrich Zille herauf und da ging es eher um soziale Belange.

Sie beschreiben die stilbildenden Gruppierungen im historischen Abriss – von den Frontstadtbewohnern bis zu den neuen digitalen oder kreativen Eliten. Wo ordnen Sie selbst sich ein? Und wohnen Sie im richtigen Kiez?
Angesichts der nackten Zahlen – Zuwanderung 2001 als Grafik-Designer nach Mitte – gehöre ich wohl zur „kreativen Klasse“. Als Beobachter der verschiedenen Szenen habe ich mich aber immer schon als am Rande stehend gesehen und bin mittlerweile nach Charlottenburg umgezogen. Kleiner Scherz am Rande, wenn ich Freunden davon erzähle: Das Durchschnittsalter ist in beiden Bezirken gesunken …

Kurz nachdem Sie Ihrem Heimatland den Rücken gekehrt hatten, veröffentlichten Sie mit “Darum nerven Österreicher“ eine bissig-böse, hoch amüsante Abrechnung mit ihren Landsleuten – sozusagen aus der sicheren Distanz des Exils. Wohin werden Sie ziehen, wenn Sie es sich nun mit den Berlinern verderben?
Zurück nach Wien natürlich. Berlin und Wien sind ja geistesverwandte Städte, in Berlin gibt es unheimlich viele Österreicher. Allerdings ist es einfacher sich in Berlin jahrelang unbemerkt aufzuhalten als in Wien. Hamburg wäre auch noch eine Alternative. Leider kann man sich ein Autor, der sich mit den Marotten der Menschen beschäftigt, die ihn umgeben, nicht ins Schreiber-Exil zurückziehen – es sei denn, ein Verlag wäre interessiert an einem Buch über die Exil-Deutschen auf La Palma.

Hass enthält immer einen Funken von Liebe. Ihre Österreich-Abrechnung wurde Ihnen als versteckte Liebeserklärung ausgelegt. Sind Ihnen die Berliner inzwischen auch so ans Herz gewachsen?
Das kann ich weder generell noch für eine bestimmte Szene wirklich bejahen. Die frühkindliche Prägung und das pubertäre Aufbegehren – was in meinem Fall in Österreich stattfand – sind dann doch entscheidender, denke ich. Wenn man darüber hinweg ist, wird es schwer, sich irgendwo heimisch zu fühlen – es sei denn, man erwählt sich eine gewisse Szene als Heimat – was viele Neu-Berliner ja machen. Da ich aber eher ein Einzelgänger bin, ist das bei mir nicht der Fall. Außerdem siedelt der „echte“ Berliner ja in Stadtteilen, in die man sich als Zuwanderer selten begibt. Die wenigen geborenen Berliner, die ich zu meinen Freunden zähle, kommen aus dem Ostteil der Stadt. Da gibt es sicher ähnliche Erfahrungen mit dem „großen Bruder“ wie bei uns Österreichern.