Rot-ichweiß-Rot

Warum nerven die Deutschen?

Weil sie jammern, taktieren, sich durchwurschteln – und damit den Österreichern immer ähnlicher werden. Und weil sie Autos wichtiger nehmen als ihre Kinder. Eine Gegenüberstellung von Walter Lendl, Exil-Österreicher in Berlin

Seit ich in Berlin lebe, verfolge ich mit Besorgnis eine Entwicklung, die mich irritiert: Die Deutschen werden immer mehr zu Österreichern. Sie nörgeln rum, statt die Initiative zu ergreifen. Sie konferieren, statt auf den Tisch zu hauen. Alles, wofür der große Nachbar bewundert wird – Entschlusskraft, Durchsetzungsvermögen, Verlässlichkeit -, schwindet. Und wird ersetzt durch Charaktereigenschaften, die, nicht ganz zu Unrecht, den Österreichern zugeschrieben werden: Gejammere, Taktieren, Durchwurschteln.

„So schnell schießen die Preußen nicht“, lautet ein geflügeltes Wort, doch in der Schlacht bei Königgrätz (1866) taten sie es und hauten die armen Österreicher, die ihre eingeübten Formationen gar nicht aufbauen konnten, einfach in die Pfanne. Seither ist das Verhältnis des Österreichers zum Deutschen von einer enormen Hassliebe geprägt: Man bewundert den großen Nachbarn für seine Erfolge und verachtet ihn gleichzeitig, weil man sich selbst eigentlich für talentierter und klüger hält.

Jahrzehntelang waren die Rollen klar verteilt: Wer als Österreicher Karriere machen und viel Geld verdienen wollte, musste nach Deutschland gehen. Es gibt einfach zu wenig Jobs für die vielen Universitätsabsolventen in Österreich, egal ob sie Betriebswirtschaft, Jura oder Journalismus studiert haben. Umgekehrt stellen die Deutschen die Mehrzahl der Gäste auf den Skipisten, an den Seeufern und in den Museen der Hauptstadt Wien.

Der geschäftlich erfolgreiche Deutsche liebt Natur und Kultur des kleinen Nachbarn, der wiederum dessen Durchsetzungsvermögen bewundert, aber des Deutschen Direktheit im Auftreten ihm gegenüber als Überheblichkeit kritisiert – nachdem er sein Trinkgeld bekommen hat. Der „Piefke“ kann nicht verstehen, warum er so unbeliebt ist, und der „Ösi“ fragt sich, wie man so unsensibel sein kann.

Als in Deutschland lebender Österreicher muss ich in solchen Situationen heimlich lachen, weil ich beide Seiten kenne: Der Deutsche erwartet das Optimum für sein Geld, schließlich bezahlt er dafür. Für ihn spielt es keine Rolle, ob er in einem Viersternerestaurant ein Gourmet-Menü ordert oder ein Fünf-Euro-Tagesgericht beim Chinesen um die Ecke. Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.

Der Österreicher weiß, dass man guten Service nicht mit Geld erkaufen kann. Aber er wird es dem Gast nie sagen. Er kassiert und schweigt. Der Deutsche würde an seiner Stelle diskutieren, erklären, sich entschuldigen und versuchen, den Gast zu verstehen und es ihm recht zu machen. Was ihm nicht gelingen und ihn in die unangenehme Lage bringen würde, seinen eigenen Ansprüchen nicht zu genügen.

Und die sind sehr hoch, wie man tagtäglich beobachten kann: Für die Deutschen ist es wichtig, konsequent zu sein. Nicht nur bei der Mülltrennung, aber die spielt eine große Rolle für das Selbstverständnis. Wer Plastik in die Biotonne wirft, dem traut man auch die Ermordung der Nachbarswitwe zu – aus niedrigen Beweggründen. Beobachten sie im Urlaub, wie die Spanier und Italiener ihre leeren Wasserflaschen auf wilden Deponien in Strandnähe abladen, verschlägt es ihnen ob dieser Kulturlosigkeit die Sprache.

Ganz abgesehen davon, dass es die erfahrungshungrigen Individualisten daran hindert, ihre eigene, noch von keinem anderen Touristen betretene Badestelle zu entdecken. Denn im Gegensatz zum familienorientierten Südländer liebt es der Deutsche, für sich zu sein. Er möchte wie weiland Alexander von Humboldt bisher ungesehene Orte entdecken oder wie der vom Duft der Zitronen berauschte Goethe neue Erkenntnisse über das bereiste Land mit nach Hause bringen. Er versucht seine Bestellung in der Trattoria in holprigem Italienisch aufzugeben und erkundigt sich nach für die Region typischen Gerichten, die er unbedingt probieren muss, auch wenn ihm schon beim Anblick der Kutteln übel wird. „Nein, was die da essen!“, erzählt er dem staunenden Publikum dann zu Hause.

Dort muss der Deutsche gesund leben und sich das dreimal pro Monat vom Hausarzt bestätigen lassen. Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen müssen selbst bezahlt werden, sind aber unumgänglich, um Prostata-, Brust- oder Darmkrebs möglichst früh zu erkennen. Noch besser ist es, täglich zu joggen oder zum Yoga zu gehen. Und natürlich: sich biologisch zu ernähren. So wie die gelbe Tonne für den Verpackungsmüll, die der Handel bezahlen muss, gehört die Bio-Abteilung im Supermarkt zu den Insignien des deutschen Alltags. Wer es sich leisten kann, kauft Öko-Gemüse. Und fährt es stolz in seinem Lieblingsspielzeug nach Hause.

In Sachen Autos geht es für die Deutschen um mehr als eine Frage von Leben und Tod. Darum wehren sie sich mannhaft gegen eine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung. Engländer hegen ihren Garten, Franzosen essen sieben Gänge, Italiener vergöttern ihre Bambini. Deutsche Kinder müssen in der Wohnung bleiben, damit die Autos draußen in Sicherheit spielen können. Mögen Globalisierung, Islamisten und die Bankenkrise Deutschland bedrohen und die EU ihm seine Identität rauben: Solange das Tempolimit verhindert werden kann, ist die Welt in Ordnung.

Für uns Österreicher bleiben die Deutschen immer noch der Bezugspunkt Nummer eins in dieser Welt – zumindest solange sie als Touristen zu uns kommen. Doch hier sind wir beim entscheidenden Punkt: Immer weniger Deutsche können es sich leisten, ihren Urlaub in der Alpenrepublik zu verbringen. Dafür wollen immer mehr dort arbeiten. Da schwillt die Brust des Ösis ungemein. Endlich fühlt er sich überlegen.

Während unseres Studiums standen wir in den Ferien bei Mercedes in Stuttgart am Fließband, um das nächste Semester zu finanzieren. Meine Freundin kaufte sich ein Dirndl und kellnerte in München. Heute finden die Hartz-IV-Empfänger aus dem deutschen Osten Saisonarbeitsplätze in Tirol und freuen sich, dass sie am Skilift den russischen Touristen den Bügel unter den Hintern klemmen dürfen. Da ist mancher dann wieder froh über den Russischunterricht, den er in der Schule hatte.

Doch nicht nur in den neuen Bundesländern wird gejammert. In Berlin sind die Beamten dauerkrank, die Lehrer beschweren sich über ständig wechselnde Unterrichtskonzepte, die Künstler finden keine Käufer, die Designer keine Kunden, und die Journalisten schreiben für fünf Magazine gleichzeitig, um sich über Wasser zu halten. Man diskutiert über Steuerhinterzieher, Sozialschmarotzer und Konjunkturmaßnahmen, während sich alte Menschen die Beine brechen, weil keiner den Schnee wegräumt. Man schickt die Kinder in Privatschulen, weil man das Vertrauen in das staatliche Bildungssystem verloren hat. Wenn das so weitergeht, glauben die Deutschen nicht mal mehr, dass sie Fußball-Weltmeister werden. Wir Österreicher hingegen glauben an sie – und sind davon überzeugt, dass die Deutschen sich schon irgendwie durchwurschteln werden. Vielleicht sogar bis zum Titelgewinn.

Erschienen in einem Reise-Spezial der „Welt am Sonntag“ am 14. März 2010.